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Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 21.10.2002
Aktenzeichen: 22 U 359/01
Rechtsgebiete: ZPO, PflVG, StVG, BGB, GG, StVO
Vorschriften:
ZPO § 543 Abs. 1 a. F. | |
PflVG § 3 | |
PflVG § 3 Nr. 1 | |
PflVG § 3 Nr. 2 | |
StVG § 7 | |
StVG § 7 Abs. 2 | |
StVG § 17 | |
BGB § 839 | |
GG Art. 34 | |
StVO § 8 Abs. 2 Satz 2 |
2. Ein wartepflichtiger Kraftfahrer muss damit rechnen, dass bevorrechtigte Fahrzeuge die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch deutlich überschreiten.
3. Der Fahrer des bevorrechtigten Fahrzeugs kann grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Wartepflichtige sein Vorfahrtsrecht auf der gesamten Breite der bevorrechtigten Straße beachten wird.
KAMMERGERICHT Im Namen des Volkes
Geschäftsnummer: 22 U 359/01
Verkündet am: 21. Oktober 2002
In dem Rechtsstreit
hat der 22. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 21. Oktober 2002 durch die Richterin am Kammergericht Meising als Einzelrichterin für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 25. September 2001 verkündete Urteil des Landgerichts Berlin - 24 O 117/01 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe:
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO a. F. (vgl. § 26 Nr. 5 EGZPO) abgesehen.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg. Der Klägerin steht gegen den in zweiter Instanz nur noch in Anspruch genommenen Beklagten zu 2. als Haftpflichtversicherer des Müllentsorgungsfahrzeuges kein Anspruch auf Ersatz ihres bei dem Verkehrsunfall vom 31. Januar 2000 erlittenen Schadens gemäß § 3 Nr. 1 und 2 PflVG in Verbindung mit §§ 7, 17 StVG bzw. § 839 BGB, Art. 34 GG jeweils in der zur Unfallzeit geltenden Fassung zu.
Der Beklagte zu 2. haftet für den Unfallschaden weder aufgrund eines Verschuldens des Fahrers des LKW noch aufgrund der Betriebsgefahr dieses Fahrzeuges, selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellt, dass der Unfall für den Fahrer des LKW nicht unabwendbar im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG war. Denn die Klägerin, die aus der Betriebsgefahr ihres eigenen Kraftfahrzeuges haftet, hat den Unfall so überwiegend verschuldet, dass demgegenüber eine etwa zu berücksichtigende Betriebsgefahr des LKW völlig zurücktritt.
Entgegen der von der Klägerin vertretenen Ansicht sind keine ernsthaften Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Unfall für sie ein unabwendbares Ereignis gewesen wäre, mit der Folge, dass ihre Haftung entfallen würde (§ 7 Abs. 2 StVG). Dabei kann hier dahinstehen, ob der LKW, wie die Klägerin behauptet, trotz der am Unfallort vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h mit mindestens 70 km/h gefahren ist, und ob er kurz vor dem Zusammenstoß den Fahrstreifen gewechselt hat. Denn dies würde ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht die Annahme begründen, dass auch ein ganz besonders aufmerksamer Fahrer anstelle der Klägerin den LKW nicht rechtzeitig hätte bemerken und den Unfall nicht hätte abwenden können. Das gilt insbesondere, weil der LKW auf der bevorrechtigten R straße fuhr und die aus der kreuzenden K allee kommende Klägerin aufgrund des Verkehrszeichens Z 206 wartepflichtig war.
Die danach vorzunehmende Abwägung der von den beiden am Unfall beteiligten Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr (§ 17 StVG) führt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin allein haftet.
Hier spricht nach ständiger obergerichtlichen Rechtsprechung der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Unfall auf eine von der Klägerin verschuldete Vorfahrtverletzung zurückzuführen ist (vgl. zu dem gegen den Wartepflichtigen sprechenden Anscheinsbeweis etwa Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 8 StVO Rdn. 69 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Die Kollision ereignete sich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Abbiegemanöver der wartepflichtigen Klägerin aus der K allee in die bevorrechtigte R straße, auf der der LKW fuhr. Die Klägerin durfte gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO ihre Fahrt vom Mittelstreifen aus erst fortsetzen, nachdem sie übersehen konnte, dass sie bevorrechtigte Fahrzeuge weder gefährden noch wesentlich behindern würde.
Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Abbiegevorgang und Unfall bestünde nicht, ist dem nicht zu folgen. Dabei kann dahinstehen, ob die Klägerin, wie der Beklagte zu 2. behauptet, vom Mittelstreifendurchbruch aus unmittelbar in die Seite des vorbeifahrenden LKW gefahren ist, ob die Klägerin, wie sie ursprünglich vorgetragen hat, zur Zeit der Kollision das Abbiegemanöver bereits "fast beendet" hatte, oder ob sie, wie sie im Rahmen der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung behauptet hat, zum Zeitpunkt der Kollision unmittelbar im Anschluss an den Abbiegevorgang wenige Meter hinter der Schnittstelle der Fahrbahnen der K allee und der R Straße neben dem Mittelstreifen gerade zum Stillstand gekommen war, um das Freiwerden der Zufahrt zu einer dort befindlichen Parklücke abzuwarten, wogegen allerdings der Umstand spricht, dass sich die Anstoßstellen an den Seitenteilen des LKW befinden. Jedenfalls ereignete sich der Unfall in unmittelbarem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Abbiegemanöver, das die Klägerin gerade wegen der Parklücke eingeleitet hatte. Dass ein nennenswerter räumlicher oder zeitlicher Abstand zwischen Abbiegen und Kollision gelegen hätte und daher ein Beweis des ersten Anscheins für eine Vorfahrtverletzung der wartepflichtigen Klägerin von vornherein nicht begründet wäre, ergibt sich aus ihrem Vorbringen nicht.
Die Klägerin hat den für ihr Verschulden sprechenden Anscheinsbeweis auch nicht erschüttert. Denn sie hat keine Tatsachen vorgetragen und bewiesen, aus denen sich ergeben würde, dass sie den bevorrechtigten LKW auch bei der nach § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO gebotenen größten Sorgfalt nicht hätte wahrnehmen können (vgl. dazu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 8 StVO Rdn. 69 mit zahlreichen w. N.). Ihr nicht näher begründeter pauschaler Vortrag, sie hätte sich davon überzeugt, dass kein vorfahrtberechtigter Verkehr vorhanden war, reicht insoweit nicht aus. Denn es ist nach diesem Vorbringen ebenso gut möglich und sogar nahe liegend, dass sie den LKW, der unstreitig die R straße entlang fuhr, abgelenkt durch den Parkplatz, den sie gerade ansteuerte, aus Unachtsamkeit übersehen hatte. Die Betriebsgefahr des Fahrzeuges der Klägerin ist daher erhöht.
Gegenüber dem Verschulden der wartepflichtigen Klägerin tritt unter Zugrundelegung der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. dazu Hentschel, a.a.O. m. w. N.) die Betriebsgefahr des bevorrechtigten LKW völlig zurück. Umstände, aus denen sich ergeben würde, dass für den Fahrer die Vorfahrtverletzung so rechtzeitig erkennbar war, dass er den Unfall hätte verhindern können und müssen, und die deshalb eine Mithaftung des Beklagten zu 2., begründen würden, hat die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Klägerin nicht vorgetragen.
Soweit sie behauptet, der beim Beklagten zu 2. haftpflichtversicherte LKW sei mit überhöhter Geschwindigkeit von mindestens 70 km/h gefahren, ergibt sich daraus keine Mithaftung des Beklagten zu 2. wegen einer Erhöhung der Betriebsgefahr des LKW. Denn ein wartepflichtiger Kraftfahrer muss damit rechnen, dass bevorrechtigte Fahrzeuge die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch deutlich überschreiten (vgl. dazu KG in KG-Report Berlin 2000, 135/136 m. w. N.). Dagegen kann der Bevorrechtigte darauf vertrauen, dass der Wartepflichtige die Vorfahrt beachten werde.
Dass der Fahrer des LKW hier aufgrund der behaupteten Geschwindigkeitsüberschreitung eine Fehleinschätzung der wartepflichtigen Klägerin in Bezug auf seine Entfernung verursacht oder sich selbst außerstande gesetzt hätte, gefahrverhütend zu reagieren, was trotz des Vorrechts zu einer Mithaftung führen könnte, ergibt sich aus dem Klägervorbringen nicht. Insoweit fehlt es an einem Vorbringen der Klägerin dazu, wie weit der LKW etwa noch von der Kreuzung entfernt war, als die Vorfahrtverletzung für den Fahrer hätte erkennbar werden müssen.
Im übrigen hat die Klägerin auch einen geeigneten Beweis für ihre Behauptung, der LKW sei mit mindestens 70 km/h gefahren, nicht angetreten und im Rahmen der Abwägung der Betriebsgefahr nach § 17 StVG dürfen nur unstreitige oder bewiesene Tatsachen (und sei es im Wege des Anscheinsbeweises) zugrunde gelegt werden. Der Beweisantritt durch Vernehmung der Zeugin W ist ungeeignet. Denn hier kommt es für eine Mithaftung entscheidend auf das Maß einer etwa überhöhten Geschwindigkeit des LKW an, zumal sich eine Geschwindigkeitsüberschreitung von bis zu 10 km/h gegenüber vorgeschriebenen 50 km/h im Regelfall nicht erhöhend auf die Betriebsgefahr auswirkt. Für eine danach erforderliche hinreichend genaue Feststellung der Geschwindigkeit ist aber eine nur auf einer Schätzung beruhende Aussage der Zeugin W mangels hinreichender objektiver Anknüpfungstatsachen keine geeignetes Beweismittel, zumal die Zeugin lediglich als Fußgängerin am Straßenverkehr teilgenommen hat.
Auch soweit die Klägerin behauptet, der LKW hätte unmittelbar vor der Kollision die Spur gewechselt, bedurfte es einer Beweisaufnahme nicht. Selbst wenn man dieses Vorbringen als richtig unterstellt, wäre eine Mithaftung der Beklagten zu 2. aus der Betriebsgefahr des LKW nicht ohne weiteres begründet. Zwar kann ein dem Unfall unmittelbar vorangehender Fahrstreifenwechsel des Vorfahrtberechtigten auf einer Straße mit mehreren Fahrstreifen eine Mithaftung begründen, etwa wenn der Wartepflichtige aufgrund besonderer Umstände darauf vertrauen kann, dass der Vorfahrtberechtigte die Spur nicht wechselt. Solche Umstände sind hier jedoch nicht vorgetragen. Grundsätzlich kann jedenfalls der Fahrer des bevorrechtigten Fahrzeuges darauf vertrauen, dass der Wartepflichtige sein Vorfahrtrecht auf der gesamten Breite der bevorrechtigten Straße beachten wird. Der Bevorrechtigte muss im Stadtverkehr einen Fahrstreifenwechsel im Regelfall nicht mit Rücksicht auf wartepflichtige Fahrzeuge unterlassen, um diesen ein bequemeres Einbiegen zu ermöglichen. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Fahrer des LKW auch, weil die Klägerin unstreitig langsam rollte, nicht damit rechnen musste, dass sie sein Vorrecht nicht beachten würde. Vielmehr konnte er gerade deshalb darauf vertrauen, dass die Klägerin auf dem Mittelstreifendurchbruch anhalten würde. Dass er die bevorstehende Vorfahrtverletzung so rechtzeitig vor Einleiten des Spurwechsels hätte bemerken müssen, dass er die Kollision durch Vermeiden des Spurwechsels noch hätte verhindern können, ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerin nicht. Denn daraus ergeben sich, wie bereits ausgeführt, keine hinreichenden Anhaltspunkte, um insoweit erforderlich Feststellungen dazu zu ermöglichen, ob der LKW, als die Vorfahrtverletzung für ihn erkennbar werden musste, noch so weit von der Kreuzung entfernt war, dass er unfallverhütend hätte reagieren können.
Eine Haftung des Beklagten zu 2. aus einem Verschulden des Fahrers des LKW gemäß § 839 BGB bzw. Art. 34 GG bzw. § 3 PflVG scheidet schon deshalb aus, weil, wie sich aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt, Umstände, aus denen ein Verschulden des Fahrers folgen würde, nicht hinreichend dargelegt bzw. unter Beweis gestellt worden sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO (vgl. § 26 Nr. 8 EGZPO).
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO in Verbindung mit § 26 Nr. 7 EGZPO) liegen nicht vor.
Ende der Entscheidung
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